Die Architektur der Nachbarschaft

von Roland Züger

Was kann das Bauliche zur Entstehung lebendiger Nachbarschaften beitragen? Eine ganze Menge: angefangen bei gemischten Wohntypen, geschickt angelegten Wegen oder einladenden Freiflächen, damit sich die Bewohnenden gerne treffen. Besonders Schwellenzonen sind für eine gelingende Nachbarschaft von Bedeutung, wie ein Augenschein in Baden und Mönchaltdorf beweist.

Die Stadt ist ein Moloch. Von der A-Stadt ist oft die Rede, liest man in Berichten aus den 1970er Jahren: Armen, Arbeitslosen, Ausländern und Alten vorbehalten. Nicht allein die Mittelschicht mit Familie zieht in die Speckgürtel der Städte.1 Autos und Autobahnen liessen das Beste aus beiden Welten kombinieren: Arbeiten in der Stadt und Wohnen im Grünen. Die Landnahme für den Siedlungsbau ausserhalb der Kerne ist in den 1970er Jahren gängige Praxis und weit entfernt von den Restriktionen von heute. So auch zwanzig Kilometer vor Zürich, in Mönchaltdorf.

Partizipation im engen Rahmen: Heugarten

Auf einem Acker hat der Architekt Roland Leu hier für 46 Familien 1981−83 eine Wohnsiedlung entworfen.2 Das Quartier, das als Eigentümer-Genossenschaft entstand, ist einfach erklärt: Als Kopfbau dient ein Hofhaus mit 10 Mietwohnungen, Waschküchen und Mehrzwecksaal. Von dieser symbolischen Mitte gehen Wege ab, die sämtliche Reihenhäuser verbinden. Neben dem Kopfbau liegen die 10 Dorfhäuser. Zusammen mit den 10 West- und 16 Südhäusern bilden sie zwei Wohnhöfe. Die Mischung der Hausgrössen und die Kombination mit den Mietwohnungen ermöglicht es unterschiedlichen Milieus, hier zu wohnen. Auch der Sozialdynamik kommt das entgegen, etwa wenn Ehen scheiden oder Partner sterben und man nicht sein Umfeld verlassen muss. Das fördert den sozialen Kitt. Grundlage dafür bot die Partizipation der Bewohnenden an Planung und Bau.3 Das habe die Identifikation mit der Siedlung gestärkt, Gemeinschaft erlebbar und die Gruppe konfliktfähig gemacht, wurde einst über die Siedlung vermerkt.4 Auch Roland Leu ist überzeugt: «Der Prozess war der Architektur zuträglich, denn der Rahmen war stark genug.»5

Aber auch in seiner baulichen Form weist der Heugarten Elemente auf, die beim Gang durch die Siedlung ins Auge fallen. Jedem Haus ist eine Übergangszone vorgelagert: ein kleines Vordach, eine Stufe, eine Sitzbank, ein Belagswechsel oder gar ein kleiner Vorplatz – ein Dazwischen.6 Das Souterrain der Westhäuser erschliesst eine laubenartig gedeckte Gasse und macht es als Homeoffice oder Einliegerwohnung nutzbar. Das Hochparterre ist über vorgelagerte Terrassentreppen zu erreichen.7

«Der Prozess war der Architektur zuträglich, denn der Rahmen war stark genug.» Roland Leu

Nachbarschaft im Zeilenbau: Haberacher

Ein Vorläufer für das Ensemble in Mönchaltdorf ist die Siedlung Haberacher in Baden-Rütihof der Metron.8 1977–95 in vier Etappen errichtet, basiert sie, mit Ausnahme von 16 Geschosswohnungen in der zweiten Etappe, ebenfalls hauptsächlich auf dem Reihenhaus (RH). Sie kann als veritables Labor gelten, denn mit jeder Etappe optimierte Metron den Typ in mehrfacher Hinsicht: Hausbreite und -tiefe, Lage der Treppe (längs oder quer) und Aussenraum (Vorgarten, Gartensitzplatz, Dachterrasse).9 Zuerst haben zwei Zeilen im Eigentum das Grundstück im Norden (8 RH) besetzt. Die zweite Etappe (20 RH, 16 Wohnungen, alles zur Miete) schloss südlich daran an. Die Stichstrasse nach Westen führt zur vierten Etappe (16 RH Miete, 14 RH Eigentum). Eine dritte (nicht von Metron) entstand im Norden.

Der augenscheinlichste Unterschied zum Heugarten besteht beim Haberacher in seinen parallelen Zeilen. Die Metron-Siedlung verfügt weder über eine symbolische Mitte, noch sind die Gebäude um Höfe gruppiert. Als Gemeinschaftsraum haben zunächst die Einstellhallen gedient. Mit steigender Anzahl an Bauten und Bewohnenden liess sich in der vierten Etappe ein Gemeinschaftsraum realisieren – nebst Plätzen, Spielwiese und Pflanzgärten an den Zeilenenden.

Sozialer und architektonischer Raum eng verflochten

Auch die Siedlung Haberacher ist mit Blick auf die Gemeinschaft entworfen. Das umfasst nebst den sozialen (vgl. Barbara Emmenegger, S. 6) auch bauliche Massnahmen. Ein Merkmal bilden hier ebenso wie in Mönchaltdorf differenziert gestaltete Schwellen. Im Haberacher sind die Erschliessungsgassen der zweiten Etappe hervorzuheben. Hier sind sozialer und architektonischer Raum eng verflochten und schaffen eine vielfältige Aneignung.10

Theoretisch hat dieses Modell Hans Rusterholz (1931–2015), Mitgründer der Metron, 1974 in seinem Essay «Kleine Netze» beschrieben. Er war selbst einer der Verantwortlichen für den Haberacher und hat in seiner Siedlung in Niederlenz seine Theorie in die Praxis umgesetzt: 23 Wohneinheiten bilden ein überschaubares Umfeld, das Kontakt ermöglicht und auch Schwächere integrieren kann.11

Obwohl sich ihr Modell unterscheidet, sind zwei vom gemeinschaftlichen Wohnen stark geprägte Siedlungen entstanden: in Mönchaltdorf fast komplett mit Einzeleigentümern, die jedoch an Entwurf und Bau partizipiert haben; in Baden durch den «Verein für billiges Wohnen»12 als gemeinnütziger Bauträger. Beide Anlagen sind durch vielfältige Schwellenzonen geprägt, die einladend sind, Kommunikation fördern und somit der Vereinzelung entgegenwirken – Ziele der «Kleinen Netze», die nichts an ihrer Aktualität eingebüsst haben.

Roland Züger

Studium der Architektur, seit 2007 Dozent an der ZHAW, Hochschule für angewandte Wissenschaften, in Winterthur sowie stellv. Chefredaktor der Zeitschrift werk, bauen + wohnen. Zusammen mit Florian Kessel führt er ein Architekturbüro in Berlin und Zürich.

1 Die Stadt Zürich hat beispielsweise ihre Abwanderung ins Umland erst 1988 (seit 1962) gestoppt. Vgl. https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/statistik/themen/bevoelkerung/daten.html#bestand

2 Sie baut auf eine zehnjährige Erfahrung: Siedlung Aabach Mönchaltdorf 1975–75 (15 RH), Feldmeilen 1979–80 (22 RH), Otelfingen 1978–80 (12 RH).

3 Es gab Arbeitsgruppen zu: Energieversorgung, Finanzierung, Küchengestaltung, Apparateauswahl, Umgebungsarbeiten.

4 Karin R. Lischner, Siedlungsgemeinschaft «Im Heugarten», in: Wohnen 6-1989, S. 141–146.

5 Roland Leu im Gespräch mit dem Autor. Vgl. im Weiteren Roland Leu, Heugarten in Mönchaltdorf. Ein Beitrag zum Selbstbau, in: Aktuelles Bauen 5-1985, S. 29.

6 Claudia Cattaneo, Verena Huber, Anja Meyer, Roland Züger (Hg.) Dazwischen, von der Wohnungstüre zur Trottoirkante, Zürich 2014.

7 Zu den Treppen im Freien verweist Roland Leu auf die Erfahrungen bei den Wohnprojekten von A.D.P., insbesondere an der Helmutstrasse in Zürich (1989–91).

8 Nach Auskunft von Leu gab es Austausch zur Metron, insbesondere zu Ueli Rüegg und Claude Vaucher. Sie haben sich gegenseitig die frisch realisierten Wohnsiedlungen gezeigt.

9 Vgl. Daniel Kunz, Bruno Maurer, Werner Oechslin, Ruedi Weidmann, Metron. Planen und Bauen 1965–2003, Zürich 2003, S. 160.

10 Eine Beschreibung dieser Schwellenzone und ihrer Wirkung vgl. Adrian Streich, Roland Züger, «Architektur des sozialen Raums», in: werk, bauen + wohnen 4-2014, S. 38–44.

11 Hans Rusterholz, Kleine Netze, Metronpapier 1974 (www.rusterholz-ag.ch). Auf der gleichen Webseite sind auch Information zur Siedlung in Niederlenz zu finden.

12 Heute noch betreut der 1953 gegründete Verein, nunmehr unter dem Namen Casarta, 220 Wohnungen in 4 Siedlungen in Baden und Umgebung: www.casarta.ch.