«Der Dialog findet
draussen statt»
Wohnsiedlung Futura Schlieren
die Siedlung Futura, fotografiert von ihren Bewohnenden
von Raphaela Guin, Sebastian Lehmann, Luise Rabe, Monika Steiner
Sie könnte eine unter vielen jungen Wohnsiedlungen im boomenden Schlieren sein. Doch wer in der Futura-Siedlung wohnt, hat das Gefühl, sie ist besonders. Das mag an ihrer Grösse liegen (grosszügig, aber nicht anonym), am Konzept (die Siedlung ist erbaut nach dem Wohnform-System Ecofaubourgs) oder am in jeder Hinsicht zentralen Hof. Auf ihn sind alle drei Wohngebäude ausgerichtet und er ist der wichtigste Ort für Kontakt und Austausch. «Der Dialog findet draussen statt», bestätigt Chabane Djarme.
Djarme kann sich keinen besseren Ort für seine Familie vorstellen. Familien prägen denn auch das Bild der Siedlung. Menschen, die gerade ins Berufsleben einsteigen oder sich daraus verabschiedet haben, sieht man wenig. Dafür hört und riecht man unterschiedlichste Nationen und Kulturen. Das Miteinander einer solch diversen Mieterschaft, aber auch von Bewohnenden und Besuchenden, erfordert ein hohes Mass an Toleranz. Wer von Lärm spricht, meint oft nicht die nahe Bahnstrecke, sondern den Hof oder die benachbarte Schule, und wer das Gelände am Abend wieder verlässt, sorgt sich unter Umständen wenig um dessen Sauberkeit. Gleichzeitig gibt gelebte Toleranz hoch geschätzten Freiraum. Auch wenn eine Mitgestaltung des Hofs ausserhalb der Gärten nicht vorgesehen ist, kann sich Djarme problemlos vorstellen, dass Kinder dort ein Häuschen errichten.
Neben baulichen Angeboten wie Ateliers, Gemeinschaftsräumen, Waschsalons und einer Kinderkrippe sah das Siedlungskonzept einen Siedlungscoach vor, der die neue Gemeinschaft im ersten Jahr begleitete. «Sie war wie ein guter Geist, der den Kontakt in der Nachbarschaft gefördert hat», erinnern sich Markus Sierigk und Tobias Forster, Futura-Mieter der ersten Stunde. Heute gibt es keinen Siedlungscoach mehr – und kaum noch Anlässe, bei denen man ungezwungen zusammenkommt. Viele Bewohnende waschen in ihren Wohnungen. Ursprünglich als Gemeinschaftsräume konzipierte Räume sind teilweise vermietet; die Gärten werden auch von Menschen aus der Umgebung genutzt. Das hat sein Gutes: Die Siedlung hat sich geöffnet und ist heute ein Zentrum für das Quartier.
Mit welchen Menschen hatten Sie es bei Ihrer Arbeit in Schlieren zu tun?
Am Anfang hatten wir 180 Leute hier, alle frisch eingezogen in die 94 Wohnungen. Die waren natürlich erst mal alle an den gleichen Fragen interessiert: Wo kaufe ich ein, wo gehen meine Kinder in die Schule? Und nicht: Wo kann ich mich engagieren? Es gab keine grosse Altersdurchmischung, dafür viele junge Leute und Familien: vom Expat über die Migrantin bis zum Schweizer. Die hatten auch nicht diese negative Sicht auf das Limmattal. Ein zugezogener Holländer meinte einmal zu mir «It’s so un-swiss here» – dass man aufeinander zugeht und miteinander redet.
Charakteristisch für die Siedlung sind die Gemeinschaftsgärten. Funktionieren diese als Katalysatoren in einer neuen Nachbarschaft?
Ja, ich denke, dass gärtnern erdet. Und es hilft beim Ankommen, egal, welche Sprache man spricht. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen türkischen Vater, der in einem der Gärten Gemüse angepflanzt hat. Eines Tages kam er ganz stolz mit einem Blumenkohl und meinte: Ich bin zu Hause.
Was hilft sonst noch, um neue Nachbarinnen und Nachbarn beim Ankommen zu unterstützen?
Wie kann ich Leute aktivieren? – das war meine zentrale Frage. Kinder sind immer gute Vektoren und auch Feste kommen gut an. Einzelne Aktionen mit klarem Aufwand und klarem Ergebnis. Damit kann man die Leute gewinnen.
Weshalb sollte man einen Siedlungscoach engagieren?
Wie kann man eine Nachbarschaft, eine Gemeinschaft als Mehrwert quantifizieren? Es geht ja immer um die Investorin, die man überzeugen muss, und auch für den Immobilienbewirtschafter sind Zahlen wichtig. Aber wie will man das messbar machen? Mein Eindruck ist, dass eine funktionierende Nachbarschaft zu weniger Vandalismus, weniger Leerstand, einem Zusammengehörigkeitsgefühl und höherer Lebensqualität führt. Es wird mehr Sorge getragen. Das lässt sich dann zum Teil auch in Zahlen ausdrücken.
Was hat sich in der Zwischenzeit in der Siedlung verändert?
Schade ist, dass die Erdgeschossnutzungen heute nicht mehr öffentlich sind. Ich hatte mein Büro hier, und dort an der Ecke sollte es eine Bäckerei geben. Aber bei aller Kalkulation hoch und runter war das offenbar nicht möglich. Vielleicht müsste man wie bei der Europaallee in Zürich die Mieten quersubventionieren.
Was ist das Fazit Ihrer Zeit als Siedlungscoach in Schlieren?
Ich glaube, es ist dringend notwendig, dass es mehr Siedlungscoaches gibt. Wenn es meine Aufgabe war, den Bewohnerinnen und Bewohnern genügend Raum oder «Empowerment», wie das heute heisst, zu geben, und wenn mir das gelungen ist – dann ist das für mich ein Erfolg. Verdichtung braucht gegenseitige Toleranz und Respekt. Ein Siedlungscoach kann das ermöglichen.
Ecofaubourg – ressourcenschonend wohnen
In Schlieren entstand die erste Siedlung der Schweiz nach dem «Ecofaubourg»-Konzept, das sich als Marke im nachhaltigen Mietwohnungsbau etablieren und die Bewohnerinnen und Bewohner für ressourcenschonendes Wohnen sensibilisieren will. Das Konzept für die Siedlung in Schlieren wurde von der Metron Architektur AG in Zusammenarbeit mit dem ETH-Wohnforum und der Fachhochschule Luzern erarbeitet und setzt drei Schwerpunkte: energieeffiziente Gebäude, ein Mobilitätskonzept und einen Coaching-Ansatz. Den Erstbezügern stand während des ersten Jahrs mit Sabine Ziegler ein Siedlungscoach zur Seite.