Atlas der Nachbarschaften

von Katrin Seidel

Gemeinschaftliches Wohnen bewegt sich im Spannungsfeld zwischen einer Gemeinschaft mit einer Vision und grossen Erwartungen an gemeinschaftliche Aktivitäten und einer reinen Zweck-, ja sogar Zwangsge­meinschaft, die aus pragmatischen Gründen wie Mietpreis, Arbeitsweg und Verfügbarkeit von Wohnraum zusammenfindet. Beides hat seine Berech­tigung – beides birgt Qualitäten.

Zwänge – Anonymität

«Unser Zusammenleben soll laut Homepage genau die richtige Mischung aus Nähe und Distanz ermöglichen, also auf der einen Seite dem anonymen Grossstadtleben entgegenwirken, aber auch nicht in unangenehme Kontrolle umschlagen … Dass man aber was machen könnte, wenn man wollte, ist auch schon sehr viel wert.»1

Eine Haus- oder Siedlungsgemeinschaft als eine undramatische, nicht ideologisch aufgeladene, gleichwohl verlässliche Form des Zusammenlebens gehört zur sozialen Architektur.2 Die richtige Dosierung der sozialen Interaktion ist wohl für jeden verschieden.3 Enge, homogene Gemeinschaften mit gemeinsamen Werten können auch mit Zwängen verbunden sein, weil diejenigen ausgegrenzt werden, die vom Schema abweichen. Wenn die Nachbarschaft hingegen divers ist, passiert das nicht so schnell.

Eine distanzierte Nachbarschaft kann gut und gewünscht sein, sofern genügend Angebote für Freizeitaktivitäten und Dienstleistungen in der Umgebung vorhanden sind. Doch wenn wegen Umzug, Migration, neuen Lebenssituationen usw. Kontakte gesucht werden oder Hilfe gebraucht wird, könnten gute nachbarschaftliche Beziehungen diese bieten. Schliesslich ist es eine gesellschaftliche Frage, ob Netzwerk und Hilfe als Dienstleistung bereitgestellt werden müssen, oder ob eine Gemeinschaft diese eigenverantwortlich leisten kann.4

Vision im Vordergrund

Eine Vision des sozialen Zusammenlebens findet sich bereits in den Wettbewerbsunterlagen zum Brahmshof in Zürich: Die Soziologin Elisabeth Michel Alder formuliert hier 1986 das Bild eines möglichen Zusammenlebens mit der Integration unterschiedlicher Einrichtungen wie Kinderheim und Sozialwohnungen.5 Auch die Genossenschaft Kalkbreite erarbeitet für die Siedlungen Kalkbreite und Zollhaus vor Planungsbeginn Visionen des Zusammenlebens in Form eines Manifests.
Das hilft den Architektinnen und Architekten zu gewichten, gezielt Begegnungs- und Rückzugsorte zu planen und mit dem Suffizienzgedanken die Mittel an der richtigen Stelle einzusetzen. So Pascal Hunkeler: «Für mich erinnerungswürdig war euer dem Wettbewerbsprogramm beigelegtes Manifest. Dieses hatte einen grossen Impact auf die Projekte.»6

Die Rolle der Typologie

Können verschiedene städtebauliche Siedlungstypen Ausdruck einer bestimmten Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens sein? Und welche Rolle spielt die Umgebung: das urbane Umfeld in innerstädtischer Lage mit grosser Angebotsdichte oder die ländliche Umgebung am Stadtrand oder auf dem Dorf? Lassen sich verschiedene Typen für Nachbarschaften und Bewohner beschreiben?

 

Welcher Typ bist Du?

  • Wohnst Du gerne in Gemeinschaft?

  • Träumst Du vom Eigenheim?

  • Findest Du schnell Anschluss?

  • Kannst Du Dir die Wohnung im Wunschumfeld leisten?

  • Teilst Du gerne?

  • Ist Dir Besitz wichtig?

  • Brauchst Du hin und wieder Deine Ruhe?

  • Hast Du ganz eigene Vorstellungen vom Wohnen?

  • Bist Du bereit, auf kleinem Raum mit wenig Komfort zu leben?

  • Bist Du straffällig geworden?

  • Ideologe und Visionär?

  • Helferkomplex?

  • Du bist

    Individualist:in

    Die Individualist:in wohnt vielleicht im Hochhaus, liebt es, nachts über die Stadt zu blicken, und dosiert ihre nachbarschaftlichen Kontakte gezielt – oder ein Individualist ist stolzer Besitzer eines Tiny Houses am Waldrand.
  • Du musst mit der

    Zwangsgemeinschaft

    vorlieb nehmen
    Manchmal sind es die pragmatischen Gründe, wie Kosten, Nähe zum Arbeitsweg, Behindertengerechtigkeit usw., die über eine Wohnsituation entscheiden. Trotzdem können eine gute städtebauliche Situation und eine sorgfältige Gestaltung Identifikation entstehen lassen.
  • Eine

    Zweckgemeinschaft

    ist ideal für Dich
    Bekannte historische Beispiele für eine Zweckgemeinschaft finden sich in Zürich: z.B. die Frauenkolonie Lettenhof (Lux Guyer 1927), die Wohnraum für berufstätige Frauen bietet und Alltagsarbeiten durch gemeinschaftliche Angebote erleichtern will. Ein anderes Beispiel ist das «Amerikanerhaus» mit Gemeinschaftsküche an der Gertrudstrasse (1916).
  • Du kommst bei den

    Sozialen

    unter
    Der Soziale lebt vielleicht in städtischem Umfeld in einer Genossenschaft und nutzt die Nachbarschafts-App, um ehrenamtliche Tätigkeiten für die Gemeinschaft zu koordinieren – oder die Soziale lebt in einer Dorfgemeinschaft und leistet unkomplizierte Fahrdienste und Nachbarschaftshilfe.

Die Individualisten

Die Individualistin wohnt vielleicht im Hochhaus, liebt es, nachts über die Stadt zu blicken, und dosiert ihre nachbarschaftlichen Kontakte gezielt – oder ein Individualist ist stolzer Besitzer eines Tiny Houses am Waldrand.

Die Zweckgemeinschaft

Bekannte historische Beispiele für eine Zweckgemeinschaft finden sich in Zürich: z.B. die Frauenkolonie Lettenhof (Lux Guyer 1927), die Wohnraum für berufstätige Frauen bietet und Alltagsarbeiten durch gemeinschaftliche Angebote erleichtern will. Ein anderes Beispiel ist das «Amerikanerhaus» mit Gemeinschaftsküche an der Gertrudstrasse (1916).

Die Sozialen

Der Soziale lebt vielleicht in städtischem Umfeld in einer Genossenschaft und nutzt die Nachbarschafts-App, um ehrenamtliche Tätigkeiten für die Gemeinschaft zu koordinieren – oder die Soziale lebt in einer Dorfgemeinschaft und leistet unkomplizierte Fahrdienste und Nachbarschaftshilfe.

Die Zwangsgemeinschaft

Manchmal sind es die pragmatischen Gründe, wie Kosten, Nähe zum Arbeitsplatz, Barrierefreiheit usw., die über eine Wohnsituation entscheiden. Trotzdem können eine gute städtebauliche Situation und eine sorgfältige Gestaltung Identifikation entstehen lassen.

Stellschrauben für ein bewusstes Miteinander

Was könnten Stellschrauben sein, die Potenziale wie Identifikation, Sorge zum Ort und nachbarschaftliches Engagement beeinflussen und aktivieren können? Aus den Beobachtungen bei unseren Siedlungsbesuchen, aber auch aus der Metron-Erfahrung interdisziplinärer Planung auf verschiedenen Flughöhen formulieren wir Handlungsansätze. Sie richten sich in erster Linie an Gemeinden, Bauträger und Planerinnen, die in den frühen Phasen Weichen stellen können.

Katrin Seidel
Studium Architektur und Städtebau in Dortmund und Venedig. Zunächst als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund und an der ETH Zürich in Forschungsprojekten zu Industrie­kultur und Ressourcenerhalt tätig. Seit 2012 als Architektin bei Metron, unter anderem im Wettbewerbs- und im Städtebauteam.

1 Anke Stelling: Bodentiefe Fenster. Berlin 2016.

2 vgl. Thomas Klie: Wen kümmern die Alten? Auf dem Weg in eine sorgende Gesellschaft. München 2019.

3 vgl. Barbara Emmenegger: Ein Spiel um Nähe und Distanz, Metron Themenheft 37: Nachbarschaften. S. 6.

4 vgl. Klie u.a. (o.J.): Wiener Thesen zur Caring Community.

5 ETH-Wohnforum, Hausbiographien.

6 Pascal Hunkeler, Amt für Hochbauten, Stadt Zürich und Wettbewerbsbegleitung Zollhaus in ZH 2013 – 2021. Hrsg. Genossenschaft Kalkbreite 2021.