Ein Spiel um Nähe und Distanz

von Barbara Emmenegger

Max Frisch schauderte es vor der Idee, «zufällig-erzwungene Nachbarschaften»1 leben zu müssen. In Zeiten globalisierter Kommunikation wird die lokale Verankerung der Nachbarschaften im gemeinsamen Nahraum infrage gestellt. Doch mit Corona wird Nachbarschaft in Haus und Siedlung aktuell wieder neu entdeckt, die Nachbarschaftshilfe zu einer Selbstverständlichkeit, der Schwatz im Treppenhaus sehnlichst erwartet und werden Balkone zu wichtigen Austauschplattformen.

Die Bedeutung lokaler Nachbarschaften hat erstaunlicherweise trotz der digitalen Revolution, welche Ortsbezüge durch Mobilitätstechnologien relativiert2, in den letzten Jahren zugenommen. Sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis wer­den neue Konzepte von gemeinschaftlichem Wohnen entwickelt, die auf Ansätzen der Integration, der sozialen Durchmischung, des Generationenwohnens, des Sharings und auch der demokratischen Teilhabe und Mitsprache beruhen.

So schwingt bei Nachbarschaft immer auch ein Konzept von Gemeinschaft mit. Verschiedene soziale Bewegungen im 19. Jahrhundert haben den Begriff Nachbarschaft als Allerheilmittel gegen die Entfremdung in der modernen Grossstadt normativ aufgeladen.3 Auch heute wird mit dem Konzept der sozialen Durchmischung von Nachbarschaften auf deren soziale Integrationsrolle verwiesen. Gleichzeitig spielt bei den Bewohnerinnen und Bewohnern von Siedlungen jedoch der Wunsch nach Selbstähnlichkeit in der Nachbarschaft, nach sozialer Homogenität, ganz nach dem Motto «Gleich und Gleich gesellt sich gern» eine zentrale Rolle.4

Neben den sozialen Beziehungen definiert die räumliche Nähe des Wohnens in Haus, Siedlung oder Quartier die Nachbarschaft mit. Und auf einer dritten Ebene beeinflussen die Strukturen und Prozesse der organisationalen Steuerung die Bildung von Nachbarschaften. So fördern zum Beispiel Mitsprachemöglichkeiten im Siedlungsalltag nachbarschaftliche Kontakte. Nachbarschaft als Gemeinschaft ist ein komplexes Gewebe aus sozialen, räumlichen und strukturellen Dimensionen. Nachbarschaftskonzepte sind in ihrer Zeit zu verorten und also immer an eine bestimmte Vorstellung von sozialer und symbolischer Ordnung gebunden.

Schon allein die Tatsache, dass man im Notfall um die potenzielle Hilfe von Nachbarinnen oder Nachbarn weiss, unterstützt das individuelle Wohlbefinden.

«Die» Nachbarschaft gibt es nicht

Im Alltag begegnen wir unterschiedlichsten Ausprägungen von Nachbarschaften und Bedürfnissen nach nachbarschaftlichen Kontakten. Nachbarschaften sind abhängig von individuellen Lebenslagen und Lebensphasen. Kinder respektive Familien mit Kindern und ältere oder betagte Menschen sind stärker auf den sozialen Nahraum angewiesen als kinderlose Personen im erwerbsfähigen Alter.

Nachbarschaftliche Kontakte können mit dem Nachbarschaftskontinuum dargestellt werden.5 Sie reichen mit zunehmender Intensität der sozialen Bindungen von völliger Anonymität auf der einen Seite des Spektrums bis zu intensiver Gemeinschaft am entgegengesetzten Pol.

In den in der Studie untersuchten Siedlungen orientiert sich die gelebte nachbarschaftliche Realität, die sich durch ein Alltagshandeln auszeichnet, mehrheitlich an losen Beziehungsformen. Diese losen Bindungen sind erstaunlicherweise sehr wichtig für die positive Einstellung zur sozialen Umgebung. Denn schon allein die Tatsache, dass man im Notfall um die potenzielle Hilfe von Nachbarinnen oder Nachbarn weiss, unterstützt das individuelle Wohlbefinden. Intensive nachbarschaftliche Beziehungen sind eher selektiv und bringen stärkere Verbindlichkeit mit sich. Gleichzeitig verursacht diese engere Gruppenbindung, wie jeder Vergemeinschaftungsprozess, Ausschluss. Es ist also das permanente Spiel um Nähe und Distanz, in dem sich Nachbarschaften bewegen. Tragfähige, selbst gewählte nähere und distanziertere Nachbarschaften in Siedlungen sind zentrale Bestandteile des Zusammenlebens und bilden das soziale Kapital des Wohnquartiers mit.

Das Nachbarschaftskontinuum

Intensität der Nachbarschaft
  • Sich nicht kennen
  • Sich vom Sehen kennen
  • Sich beobachten
  • Sich grüssen
  • Small Talk
  • Punktuelle Hilfeleistungen
  • Punktuelle gemeinsame Aktivitäten
  • Sich besuchen
  • Intensive Hilfeleistungen
  • Konflikte
  • Regelmässige gemeinsame Aktivitäten
  • Freundschaft
Gemeinschaft – Starke soziale Bindung

Sind Nachbarschaften planbar?

Die Frage nach den Bedingungen für die Bildung tragfähiger Nachbarschaften wird zurzeit in viele Siedlungsentwicklungen einbezogen. Denn soziale Nachhaltigkeit hat sich mittlerweile zu einem Unique Selling Point gemausert. Einbezogen werden sozialräumliche Nachbarschaftskonzepte. Sie orientieren sich zum Beispiel am Verhältnis von Privatheit und Gemeinschaftlichkeit, an niederschwelligen, multifunktionalen Begegnungsräumen, an Nutzungsvielfalt von Innen- und Aussenräumen, an der Anbindung an Quartierstrukturen und an sozialen Infrastrukturen wie auch an der sozialen Durchmischung oder der Generationendurchmischung.

Einige Siedlungsprojekte binden auch die prozessuale Ebene ein. Denn beim Wohnen besteht ein wachsendes Bedürfnis nach demokratischer Teilhabe. Damit sind Möglichkeiten gemeint, das Wohnumfeld und das soziale Umfeld mitzugestalten. Gerade junge, innovative Wohnbaugenossenschaften oder Baugruppen, mit ihren auf Solidarität und Mitwirkung basierenden Lebensformen, organisieren das Siedlungsleben auf basisdemokratischen Prinzipien. Dieses an Gestaltungsmöglichkeiten gekoppelte Engagement unterstützt auch den Aufbau von sozialen Netzwerken. Eine weitere Möglichkeit, Netzwerke in sozial durchmischten Nachbarschaften zu unterstützen, bieten das Siedlungscoaching oder die Siedlungsassistenz.6

Daraus entstehende tragfähige Nachbarschaften helfen, dem wachsenden Bedarf nach sozialer Begleitung und Unterstützung – sei es von älteren Menschen, bei der Kinderbetreuung oder bei den mannigfaltigen alltäglichen Beeinträchtigungen – zu begegnen.

Solche Konzepte und Ansätze haben zum Ziel, Nachbarschaften zu planen. Viele Beispiele dokumentieren, dass sich diese Bemühungen lohnen. So ist in Siedlungen mit tragfähigen Nachbarschaften die Fluktuation der Mieterinnen und Mieter geringer, sind Vandalismus oder Littering seltener zu beobachten, wird Vereinsamung schneller erkannt, die Lebensqualität geschätzt. Siedlungen, die eine Aushandlungskultur kennen, können besser mit Konflikten umgehen.

Bei aller Planung darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich tragfähige Nachbarschaften unterschiedlich ausgestalten sollen und können. Bei genauerer Betrachtung von Nachbarschaften sind gegenläufige Tendenzen zu beobachten: das Credo der sozialen Durchmischung und/oder der Wunsch nach sozial homogenen Refugien, die Sehnsucht nach engen Gemeinschaften oder nach grossstädtischer Anonymität. Die Ansprüche an das nachbarschaftliche Zusammenleben sind vielfältig und überschneiden sich. Bewohnerinnen und Bewohner von städtischen Siedlungen äussern sowohl den Wunsch nach lokalen, gemeinschaftlichen Erlebnissen und Authentizität im Quartier als auch die Möglichkeit, mit wenigen Schritten in die städtische Anonymität abzutauchen. Die Stadt schliesslich lebt von vielfältigen Formen heterogener und durchmischter wie auch homogener und segregierter Siedlungen und Nachbarschaften.

Barbara Emmenegger

Raumsoziologin, bis 2020 Professorin an der Hochschule Luzern, heute selbstständig mit ihrem Büro Soziologie & Raum in Zürich. Im Fokus ihrer Arbeit liegen sozialräumliche Entwicklungsprozesse vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Kohäsion. Publikationen zu raum- und stadtsoziologischen Themen.

1 Max Frisch, 1953 «Cum grano salis» Eine kleine Glosse zur schweizerischen Architektur. In: Das Werk, Band 40, S. 328. Frisch will sich der durch territoriale Bedingungen erzwungenen Nachbarschaften, die zu dörflichen Gemeinschaften mutieren könnten, entziehen und wünscht sich selbst gewählte, individualistisch geprägte Nachbarschaften, fernab lokaler Bedingtheit.

2 vgl. Marcus Menzl, Nachbarschaft und Quartier in der Stadtentwicklung. In: Ingrid Breckner et al (Hg.) Stadtsoziologie und Stadtentwicklung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. 2020. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden. S. 245–255.

3 vgl. Jens Wietschorke, Ist Nachbarschaft planbar? In: Sandra Evans & Schamma Schrader (Hg.) Nachbarschaft, Räume, Emotionen. Interdisziplinäre Beiträge zu einer sozialen Lebensform. 2012. Transcript, Bielefeld. S. 93–119.

4 Barbara Emmenegger, Meike Müller, Ilja Fanghänel, Nachbarschaften in genossenschaftlichen Wohnsiedlungen als Zusammenspiel von gelebtem Alltag, genossenschaftlichen Strukturen und gebautem Umfeld – Ein Beitrag zur sozialen Nachhaltigkeit. Schlussbericht 2017. Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. S. 152. www.hslu.ch

5 vgl. ebd., S.150.

6 Christian Reutlinger, Caroline Haag, Nicola Hilti, Christina Vellacott, Madeleine Vetterli, Nachbarschaften als Beruf. Forschungs- und Entwicklungsprojekt. 2020. Institut für Soziale Arbeit und Räume FHS St. Gallen.