Die Bedeutung lokaler Nachbarschaften hat erstaunlicherweise trotz der digitalen Revolution, welche Ortsbezüge durch Mobilitätstechnologien relativiert2, in den letzten Jahren zugenommen. Sowohl in der Theorie wie auch in der Praxis werden neue Konzepte von gemeinschaftlichem Wohnen entwickelt, die auf Ansätzen der Integration, der sozialen Durchmischung, des Generationenwohnens, des Sharings und auch der demokratischen Teilhabe und Mitsprache beruhen.
So schwingt bei Nachbarschaft immer auch ein Konzept von Gemeinschaft mit. Verschiedene soziale Bewegungen im 19. Jahrhundert haben den Begriff Nachbarschaft als Allerheilmittel gegen die Entfremdung in der modernen Grossstadt normativ aufgeladen.3 Auch heute wird mit dem Konzept der sozialen Durchmischung von Nachbarschaften auf deren soziale Integrationsrolle verwiesen. Gleichzeitig spielt bei den Bewohnerinnen und Bewohnern von Siedlungen jedoch der Wunsch nach Selbstähnlichkeit in der Nachbarschaft, nach sozialer Homogenität, ganz nach dem Motto «Gleich und Gleich gesellt sich gern» eine zentrale Rolle.4
Neben den sozialen Beziehungen definiert die räumliche Nähe des Wohnens in Haus, Siedlung oder Quartier die Nachbarschaft mit. Und auf einer dritten Ebene beeinflussen die Strukturen und Prozesse der organisationalen Steuerung die Bildung von Nachbarschaften. So fördern zum Beispiel Mitsprachemöglichkeiten im Siedlungsalltag nachbarschaftliche Kontakte. Nachbarschaft als Gemeinschaft ist ein komplexes Gewebe aus sozialen, räumlichen und strukturellen Dimensionen. Nachbarschaftskonzepte sind in ihrer Zeit zu verorten und also immer an eine bestimmte Vorstellung von sozialer und symbolischer Ordnung gebunden.
Schon allein die Tatsache, dass man im Notfall um die potenzielle Hilfe von Nachbarinnen oder Nachbarn weiss, unterstützt das individuelle Wohlbefinden.
«Die» Nachbarschaft gibt es nicht
Im Alltag begegnen wir unterschiedlichsten Ausprägungen von Nachbarschaften und Bedürfnissen nach nachbarschaftlichen Kontakten. Nachbarschaften sind abhängig von individuellen Lebenslagen und Lebensphasen. Kinder respektive Familien mit Kindern und ältere oder betagte Menschen sind stärker auf den sozialen Nahraum angewiesen als kinderlose Personen im erwerbsfähigen Alter.
Nachbarschaftliche Kontakte können mit dem Nachbarschaftskontinuum dargestellt werden.5 Sie reichen mit zunehmender Intensität der sozialen Bindungen von völliger Anonymität auf der einen Seite des Spektrums bis zu intensiver Gemeinschaft am entgegengesetzten Pol.
In den in der Studie untersuchten Siedlungen orientiert sich die gelebte nachbarschaftliche Realität, die sich durch ein Alltagshandeln auszeichnet, mehrheitlich an losen Beziehungsformen. Diese losen Bindungen sind erstaunlicherweise sehr wichtig für die positive Einstellung zur sozialen Umgebung. Denn schon allein die Tatsache, dass man im Notfall um die potenzielle Hilfe von Nachbarinnen oder Nachbarn weiss, unterstützt das individuelle Wohlbefinden. Intensive nachbarschaftliche Beziehungen sind eher selektiv und bringen stärkere Verbindlichkeit mit sich. Gleichzeitig verursacht diese engere Gruppenbindung, wie jeder Vergemeinschaftungsprozess, Ausschluss. Es ist also das permanente Spiel um Nähe und Distanz, in dem sich Nachbarschaften bewegen. Tragfähige, selbst gewählte nähere und distanziertere Nachbarschaften in Siedlungen sind zentrale Bestandteile des Zusammenlebens und bilden das soziale Kapital des Wohnquartiers mit.