Vier Fälle von Nachbarschaft

von Raphaela Guin, Sebastian Lehmann, Luise Rabe, Monika Steiner

Lebendige Nachbarschaften sollen uns Unterstützung und Halt bieten. Architektinnen und Landschaftsarchitekten, Städtebauerinnen und Soziologen machen dafür Angebote. Doch am Ende gestalten die Bewohnenden ihr Miteinander. Der Blick in vier Metron-Siedlungen soll zeigen, welche Faktoren darüber entscheiden, wie Nachbarschaft gelebt wird.

Einführung ins
Thema

Der Gemeinschaftsgedanke, das Netz, auf das sich der und die Einzelne verlassen kann, ist seit jeher Teil der Metron-Planungs- und -Baukultur. Fehlt die Grossfamilie, in der Aufgaben auf viele Schultern verteilt sind und die sich im besten Fall untereinander stärkt und stützt, kann – so der Gedanke – die Nachbarschaft dieses Gefüge ersetzen. Doch ist in Wohnsiedlungen unterschiedlich viel von solcher Gemeinschaft spürbar. Woran liegt das? Wer oder was entscheidet darüber, ob die Nachbarschaft das Leben erleichtert und bereichert – oder nicht?

Mit einer Fallanalyse hat sich das Städtebauteam der Metron darangemacht auszuloten, welches Mass an Kontakt und Austausch die Nachbarschaft fördert: was es mindestens braucht, damit aus einem Nebeneinander ein hilfreiches Miteinander wird, und wann es zu viel des Guten ist. Und was letztlich die Gestaltung der Räume dazu beitragen kann.

Vier Wohnsiedlungen: auf dem Plan, in der Statistik und im Gespräch mit den Menschen

Dafür durchleuchtete das Team vier Siedlungen, die zwischen 1973 und 2014 der hauseigenen Feder entsprungen sind. Die Wohnsiedlungen Haberacher in Baden-Rütihof, Futura in Schlieren, Rütihof in Zürich-Höngg und die alte Chocolat-Fabrik in Aarau zeigen – wie den folgenden Seiten zu entnehmen ist – unter­schiedlichste Voraussetzungen. Das Städtebauteam hat sich ihnen von zwei Seiten genähert: durch eine umfangreiche Analyse auf verschiedenen Ebenen (u.a. GIS-Auswertung statistischer Daten und städtebauliche und sozialräumliche Untersuchung) und durch Gespräche mit den Menschen vor Ort.

Herausgekommen sind vielschichtige Bilder der Siedlungen. Steckbriefe fassen die Beobachtungen und Erkenntnisse zusammen; eine Spider-Grafik stellt die Bewertung zuvor definierter Kriterien dar. Und doch können beide, Steckbrief und Spider, nur teilweise abbilden, was das hochkomplexe Konstrukt Nachbarschaft ausmacht.

Vier Fragen sind zentral, um eine Nachbarschaft charakterisieren zu können. (…) In der Kombination der Antworten ist jede Siedlung einzigartig.

Nachbarschaft fassen

Analyse und Interviews zeigen, dass vier Fragen zentral sind, um eine Nachbarschaft charakterisieren zu können: Welche Formen von Nachbarschaft gibt es in der Siedlung? Hat eine Einzelperson Einfluss darauf, den Raum den eigenen Bedürfnissen anzupassen – und falls ja, wie viel? Welche Kontakte gibt es in der Siedlung in Bezug auf Personengruppen und auf die Art des Kontakts? Wo liegen die Grenzen der Nachbarschaft – räumlich, sozialräumlich und psychologisch – und wie viel Nähe ist selbst bestimmbar? In der Kombination der Antworten ist jede Siedlung einzigartig. Es zeigen sich jedoch Motive, die offenbar allgemeine Gültigkeit haben.

Form

Die beobachteten Formen von Nachbarschaft zeigen sich auf drei Ebenen: der Ebene des Quartiers (Siedlung und angrenzende Gebiete), der Siedlung an sich und der Ebene des Hauses. Enge nachbarschaftliche Beziehungen auf Ebene der Siedlung sind abhängig von der Morphologie und Verwaltung der Siedlung und basieren zum Teil auf einem formalisierten bzw. organisierten Austausch (bspw. Mitbestimmungsmodell, Siedlungscoach).

Adaptierbarkeit

Je mehr Mitbestimmung möglich, erwünscht oder sogar gefordert ist (vgl. Chocolat-Fabrik), desto leichter lassen sich permanente Veränderungen im Innen- und Aussenraum bewirken. Auch eine hohe Wohnraumdiversität fördert Adaption (vgl. Futura und Haberacher): Ein breites Spektrum an Wohnungsgrössen und Eigentumsverhältnissen ermöglicht es, unterschiedliche Lebensphasen in derselben Siedlung zu verbringen. Bleibt das Umfeld aber langfristig, steigt auch das Interesse, es den eigenen – sich ändernden – Bedürfnissen anzupassen.

Kontakte und Interaktion

Die Fallstudien zeigen deutlich den Einfluss des städtebaulichen Konzepts auf die Interaktion. Siedlungen, deren Zentralitäten auch räumlich zentral liegen, bleiben oft soziale Inseln. Wenn sich dagegen wichtige Orte am Rand finden (vgl. Futura), öffentliche Wege durch die Siedlung führen (vgl. Rütihof) oder Nutzungen auch Externe anlocken (vgl. Futura), sind viel Besucherverkehr und Durchmischung selbstverständlich. Eine hohe Wohnraumdiversität fördert wiederum die Altersdurchmischung (vgl. Haberacher). Mit der Diversität der Nutzenden steigt das Konfliktpotenzial – und gleichzeitig die Akzeptanz des Andersartigen.

Grenzen

Die räumlichen Grenzen der Nachbarschaft sind abhängig von der Morphologie der Siedlung und von zentralen Nutzungen. Liegen diese am Siedlungsrand, erfolgt der Übergang zur Umgebung fliessend (vgl. Futura). Die halböffentliche Nutzung eigentlich privater Räume löst sozialräumliche Grenzen auf (vgl. Haberacher) und kann sich positiv auf das nachbarschaftliche Miteinander auswirken. Wenn die Qualität des privaten Raums sogar sinkt, sobald er abgegrenzt wird (vgl. Chocolat-Fabrik), wird klar: Hier endet das Miteinander nicht an der Wohnungstür.

Luise Rabe

Dipl.-Ing. TU, seit 2015 in der Metron als Kommunikationsexpertin. Zuständig für Unternehmenskom­munikation, Textarbeit/Redaktion und Beratung Öffentlichkeitsarbeit.

Metron-Städtebauteam

Raphaela Guin

MA in Architektur mit Fokus Urbanistik an der TU München. Tätigkeit als Architektin und Stadtplanerin in Deutschland und in der Schweiz. Seit 2017 bei der Metron Raumentwicklung in der Stadt- und Arealentwicklung und im Städtebauteam.

Sebastian Lehmann

Landschaftsarchitekt bei Metron Bern, Mitglied des Städtebauteams. Gelernter Chemikant und Gärtner mit gestalterischer Berufsmatur. Anschliessendes Studium der Landschaftsarchitektur in Rapperswil. Nebentätigkeit als Berufsschullehrer am BBZ Grenchen für die Gärtnerinnen und Gärtner EFZ.

Katrin Seidel

Studium Architektur und Städtebau in Dortmund und Venedig. Zunächst als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Dortmund und an der ETH Zürich in Forschungsprojekten zu Industrie­kultur und Ressourcenerhalt tätig. Seit 2012 als Architektin bei Metron, unter anderem im Wettbewerbs- und im Städtebauteam.

Monika Steiner

Architekturstudium an der ZHAW und Kunsthochschule Berlin-Weissensee. Weiterbildung DAS in Raumplanung an der ETH Zürich. Seit 2018 in diversen Funktionen für Metron Raumentwicklung tätig sowie Mitglied im Städtebauteam.

Dario Zallot

BSc FHO in Raumplanung FSU. Seit 2015 als Raum- und Verkehrsplaner bei Metron in den Bereichen Strassenraumgestaltung, Sozialraum sowie Stadt- und Arealentwicklung tätig.