Vier Fälle von Nachbarschaft

von Raphaela Guin, Sebastian Lehmann, Luise Rabe, Monika Steiner

Lebendige Nachbarschaften sollen uns Unterstützung und Halt bieten. Architektinnen und Landschaftsarchitekten, Städtebauerinnen und Soziologen machen dafür Angebote. Doch am Ende gestalten die Bewohnenden ihr Miteinander. Der Blick in vier Metron-Siedlungen soll zeigen, welche Faktoren darüber entscheiden, wie Nachbarschaft gelebt wird.

«Unsere Treppen­häuser sind super»

Wohnüberbauung Rütihof
Zürich-Höngg

Am Stadtrand von Zürich gehen die Meinungen auseinander. «Betonwüste» nennen es die einen, «So viel Grün!», schwärmen die anderen. Unbestreitbar ist: Die Siedlung Rütihof in Zürich-Höngg mit ihren Gebäuden und Aussentreppen aus Beton liegt idyllisch zwischen Wald und Wiesen. Etwa 450 Menschen leben hier. Und noch mehr sind hier unterwegs, denn öffentliche Wege leiten Ausflügler von der Endhaltestelle des Stadtbusses durch die autofreie Siedlung und Kinder aus der ganzen Umgebung bevölkern die Spielplätze.

Stimmen aus der Siedlung

Ursina Zanelli
Bewohnerin Rütihof
Christoph Erni
Hauswart Rütihof

Gutes Miteinander, bis es zu laut wird

Der Rütihof ist sehr divers. Man trifft Menschen jeden Alters und mit den unterschiedlichsten sozialen, beruflichen oder nationalen Hintergründen. Anonym ist es deshalb nicht. «Ich kenne jeden hier mit Namen und weiss, wo wer genau wohnt», sagt Christoph Erni. Er ist seit 13 Jahren Hauswart der Siedlung und für viele Mieterinnen und Mieter die erste Ansprechperson, wenn es um ihre Wohnung oder die Nachbarschaft geht. Das Miteinander sei gut, so Erni, der Hauptkonflikt wie vielerorts der Lärm. «Wenn die Jungen bis spät abends Fussball spielen oder dreissig Kinder auf dem Spielplatz toben, dann wird es den direkten Anwohnern auch mal zu viel.»

Architektur, die den informellen Kontakt fördert

«Ich finde Kinderlärm etwas Tolles. Aber das sehen nicht alle so», weiss Ursina Zanelli, die vor elf Jahren mit ihrer Familie hierherzog. Zanelli ist Mitglied im Forum, einer Gruppe von Genossenschaftsmitgliedern, die Veranstaltungen und Initiativen wie die Urban-Gardening-Aktion «Gartenkiste» organisiert. Sie selbst kennt viele ihrer Nachbarinnen und Nachbarn und schätzt für den informellen Kontakt die Architektur, insbesondere die Laubengangerschliessung: «Unsere Treppenhäuser sind super. Man kann sich begegnen, man kann stehen bleiben, man hat Platz zum Reden.» Der Aussenraum dagegen dürft gerne gemütlicher sein. Sie setzt sich stark dafür ein – zugunsten der Nachbarschaft. Wo die ihre Grenzen hat? «Räumlich? An der Siedlungsgrenze», findet Zanelli. «Es ist ein kleiner Raum, den ich als Nachbarschaft bezeichne.»

Eckdaten

Erstellungsdatum 1991–1997
Erreichbarkeit Zürich HB 6.2 km
ÖV Güteklasse A+B
Grösse 131 Mietwohnungen
keine Gewerbeeinheit
Wohnungsmix 2.5-Zimmer- bis 5.5-Zimmer-Wohnungen
67–132 m2
(Geschosswohnungen)
Mietzinsspektrum netto 1099 Fr. (2-Z-Whg.) –
1900 Fr. (5-Z-Whg.)
Trägerschaft ASIG Wohngenossenschaft
Bewohnerschaft viele Familien
hohe soziale Diversität
Spezielles Nutzungsangebot offene Spielhalle, Kinderhort und -krippe, Gemeinschaftsräume mit Küchen, zumietbare Freizeiträume
Situationsplan
Siedlungskontext

Interview mit Manuel Peer
Landschaftsarchitekt Rütihof

Wie beurteilen Sie die Aussenraumgestaltung der Siedlung heute?

Die Siedlung und ihren Aussenraum finde ich heute, nach knapp dreissig Jahren, immer noch gelungen. Auch den Filter zwischen halböffentlichem und privatem Raum finde ich gut und wichtig. Es gibt doch den Spruch «Gute Zäune geben gute Nachbarn». Ich glaube, der stimmt.

Welche gestalterischen Ansätze/Konzepte beeinflussen Nachbarschaften positiv?

Das Element des Laubengangs kennt man aus dem Genossenschaftsbau. Eine sehr effiziente Erschliessung, die jedoch bei Architektinnen und Investoren oft als billig gilt. Aber ich finde Laubengänge lässig! Sie dürfen nicht an den privaten Räumen vorbeiführen, sondern, wie hier zum Beispiel, an der Küche. Wenn meine Nachbarn mich dann im Pyjama am Kaffeetrinken sehen, stört mich das nicht.
Die Gemeinschaftsräume sind wichtig, da sieht man sich und trifft sich. Auch auf dem öffentlichen Fussweg, der durch die Siedlung führt, gibt es Möglichkeiten zur Kommunikation. Ich wüsste nicht, was man baulich oder aussenräumlich anders machen müsste, um eine grössere Identifikation mit der Siedlung zu erreichen. Wir haben die Kinderspielplätze extra zentral angeordnet, damit die Mütter und Väter Gelegenheit haben, sich kennenzulernen, wenn sie das möchten.

Was ist Ihnen bei Ihrer Arbeit / der Gestaltung von Freiräumen wichtig?

Blühende Pflanzen sind für Menschen einfach etwas Schönes, das darf dann auch mal eine japanische Kirsche sein. Da bin ich mit den Naturschützern in Konflikt, die auf einheimische Bepflanzungen pochen. Langfristig braucht es einen Kümmerer für die Umgebung und Sachverstand bei den Liegenschaftsverwaltungen, um die Leute, die für die Pflege der Pflanzen zuständig sind, zu führen. Oft fehlt es am Know-how, nicht am Geld.

Wie haben sich Anforderungen an die Freiraumgestaltung im Laufe der Zeit gewandelt?

Der Klimawandel ist heute Thema Nummer eins. Es geht darum, viel mehr Grün in die Siedlungen zu bringen, mehr Schatten, weniger versiegelte Flächen, bessere Verdunstung. Und mit der Innenentwicklung hat auch der Freiraum eine ganz andere Gewichtung erhalten. Als ich mein Studium beendet habe, gab es kaum Stellen. Landschaftsarchitektur – das war etwas Exotisches. Heute ist klar: Es gibt keinen Wettbewerb ohne Landschaftsarchitektinnen, sowohl in der Jury als auch in den Teams. Das ist sehr erfreulich.

 

Positionierung

Sehen Sie hier, wie sich die Siedlung in verschiedenen Kategorien positioniert. Die Werte basieren auf GIS-Analysen, städtebaulichen und sozialräumlichen Daten sowie Aussagen der Bewohnenden.
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